Über TaijixueEinleitung
Schon vor Tausenden von Jahren wurden Methoden herausgebildet, um
den Menschen mit sich selbst und mit der Natur in Einklang zu bringen
und ihm so die Tore zum Ergründen des Lebensgeheimnisses zu öffnen.
Jene Methoden, die zur Anwendung nichts als die eigenen
körperlichen und geistigen Kräfte verlangen, gab es in
verschiedenen Kulturen der Menschheit. Viele dieser Methoden sind
verloren gegangen. Manche wiederum haben sich bis zum heutigen Tag
weiterentwickelt, so wie in den Überlieferungslinien der
traditionellen chinesischen Kultur der Gesundheitspflege und
Wirklichkeitsergründung (Yangsheng-Xiuzhen).
Die traditionelle chinesische Kultur der Gesundheitspflege und
Wirklichkeitsergründung (Yangsheng-Xiuzhen)
Die traditionelle chinesische Kultur der Gesundheitspflege und
Wirklichkeitsergründung entstand aus der gegenseitigen Befruchtung
verschiedener Strömungen. Diese sind vor allem die drei großen
Weltanschauungen Daoismus, Konfuzianismus und Buddhismus sowie die
Schulen des Schamanismus, der Medizin, der Kampfkunst und der
Wahrsagerei. Vollständige Methodensysteme haben sich im Daoismus und
Buddhismus entwickelt.
Im chinesischen Buddhismus spricht man von drei bedeutenden
Schulen, den drei Stammschulen (Sanzong): Chanzong, Mizong und
Tiantaizong. Im Daoismus spricht man von fünf bedeutenden Schulen,
den fünf Geheimnissen (Wumi): Taijimen, Dandingmen, Jianxianmen,
Fulumen und Xuanzhenmen.
Die traditionellen chinesischen Schulen der Gesundheitspflege und
Wirklichkeitsergründung haben eine Jahrtausende alte Geschichte. Sie
entwickeln ihr Wissen in Meister-Schüler-Linien. Das bedeutet, es
gibt einen Meister und Stammhalter, der die vollständigen Inhalte
seiner Überlieferungslinie kennt und versteht. Dieser bildet einige
Schüler aus, von denen schließlich einer der nächste Stammhalter
wird.
Es ist keine Seltenheit, dass sich diese Schulen mit ihrem Wissen
vor der Öffentlichkeit verborgen halten. Doch der Stammhalter einer
traditionellen chinesischen Überlieferungslinie weiß immer über
die acht bedeutenden Schulen des Buddhismus und Daoismus
(Sanzong-Wumi) Bescheid. Wer als Stammhalter diese Schulen nicht
kennt, hat entweder den Kontakt zu seinen Wurzeln verloren oder kann
kein Stammhalter einer echten traditionellen chinesischen
Überlieferungslinie sein.
Selbst ernannte daoistische oder buddhistische Meister und
Stammhalter gibt es in China und im Westen insbesondere seit den
1980er Jahren. Mit dem Ende der chinesischen Kulturrevolution
sprossen plötzlich Tausende von Meistern aus dem Boden, die schon
aufgrund ihrer Anzahl gar nicht alle einer traditionellen
chinesischen Überlieferungslinie angehören können. Mit ihrem
Halbwissen verbreiten die selbst ernannten Meister einerseits viele
Fehler und Missverständnisse über die Praktiken der daoistischen
und buddhistischen Gesundheitspflege und Wirklichkeitsergründung,
haben andererseits aber viel zum Bekanntwerden dieser Kultur in der
Welt beigetragen.
Taiji-Schule (Taijimen) und Taiji-Lehre (Taijixue)
Taijimen, die ursprüngliche Schule des Taiji, geht mit ihren
Wurzeln bis zu Laozi (6. Jahrhundert v. Chr.) und dem Gelben Kaiser
(3. Jahrtausend v. Chr.) zurück. In der Tang-Dynastie (618 - 906 n.
Chr.) wurde sie formell gegründet und hielt sich seither vor der
Öffentlichkeit verborgen, so dass dann noch nicht einmal mehr ihre
Existenz bekannt war.
Erst 1989 machte Stammhalter Fangfu, mit bürgerlichem Namen Lu
Jin-Chuan, diese Schule wieder bekannt und veröffentlichte einige
ihrer Inhalte. Die Phase der Ausreifung des Methodensystems der
Schule war abgeschlossen und die gesellschaftlichen Bedingungen für
eine Öffnung günstig.
Mit der Öffnung seiner Schule für die Allgemeinheit
beabsichtigte Stammhalter Fangfu, einen Beitrag zur Weiterentwicklung
der Menschheit zu leisten, indem er authentische Inhalte der
daoistischen und buddhistischen Gesundheitspflege und
Wirklichkeitsergründung verbreitet sowie bestehende
Missverständnisse in den Theorien und Praktiken korrigiert. Die alte
Überlieferung seiner Schule soll sich in Auseinandersetzung mit der
modernen westlichen Kultur zum Nutzen der Gesundheitspflege und
Wirklichkeitsergründung der Menschen in Ost und West entfalten.
Im Jahr 1993 wurde aus Taijimen die Taiji-Lehre (Taijixue)
gegründet. Die traditionellen Inhalte der Schule wurden in Anpassung
an die modernen gesellschaftlichen Anforderungen von Stammhalter
Fangfu systematisiert und ergänzt. Die Anwendung des Wissens in der
Gesellschaft auf Gebieten wie Medizin und Philosophie wurde
ausgebaut.
Mit der Gründung der Taiji-Lehre (Taijixue) wurde der alte Name
Taijimen als Bezeichnung für die Überlieferungslinie verworfen,
auch da der Name Taijimen mittlerweile schon von anderen
Gruppierungen übernommen worden war, die nicht zur ursprünglichen
Schule des Taiji gehören.
Es stehen sich nun zwei Hauptbestandteile der Taiji-Lehre
ergänzend gegenüber: der Weg der Dao-Verwirklichung (Taiji-Daoxing)
und die Taiji-Kultur (Taiji-Wenhua). Auf dem Weg der
Dao-Verwirklichung geht es um die Selbstübung zur meditativen
Kultivierung von Körper (Xing), Lebenskraft (Qi) und Geist (Shen)
als persönliche Gesundheitspflege und Wirklichkeitsergründung. In
der Taiji-Kultur geht es darum, die aus der Selbstübung gewonnenen
Fähigkeiten und Einsichten zum Nutzen anderer in die Gesellschaft
einzubringen. Das findet beispielsweise in der Qi-Medizin als
Anwendung von Fähigkeiten zur Wahrnehmung und Steuerung von
Lebenskraft (Qi) und in der Philosophie als Anwendung von besonderen
Einsichten statt. Der Weg der Selbstübung ist die Voraussetzung für
die Taiji-Kultur.
Die Taiji-Lehre enthält die Essenz des Wissens und der Weisheit
der traditionellen chinesischen Gesundheitspflege und
Wirklichkeitsergründung. Ihre Grundlagen wurden bis zum Tod von
Stammhalter Fangfu im Jahr 2019 in einem Ausbildungssystem namens
Taiji-Qidao unterrichtet. Seither werden verschiedene Aspekte der
Taiji-Lehre von einigen seiner langjährigen Schüler weitergegeben.
Natur und Kultur
Entsprechend den zwei Hauptbestandteilen der Taiji-Lehre lassen
sich dem menschlichen Dasein zwei polare Aspekte zuordnen: Natur und
Kultur. Die Natur ist die Grundlage des menschlichen Daseins. Jeder
Mensch hat ein natürliches Leben, das zunächst unabhängig von
Gesellschaft und Kultur besteht. Aber um sein Überleben zu sichern,
braucht ein Mensch die Gesellschaft und Kultur. Beide Aspekte sind
wichtig und bedürfen der Pflege.
Der Weg der Dao-Verwirklichung betrifft die Pflege des natürlichen
Lebens. Die Taiji-Kultur betrifft die Pflege der
gesellschaftlich-kulturellen Existenz.
Normalerweise neigt ein Mensch dazu, seine Rolle in der
Gesellschaft und Kultur zu sehr zu betonen und sein natürliches
Leben zu vernachlässigen. Dadurch verliert er den Kontakt zu seinem
Wesenskern. Auf dem Weg der Dao-Verwirklichung kann ein Mensch seine
Lebensgrundlage pflegen und seine ursprüngliche Natur entdecken.
Der Weg der Dao-Verwirklichung kann als ein Weg zurück zur Natur
verstanden werden. Um in den Bereich der Natur einzutreten, muss ein
Mensch die Prägungen durch die Gesellschaft und Kultur überwinden.
Das bedeutet insbesondere, die gewohnten Grenzen der Wahrnehmung und
des Denkens zu hinterfragen und zu überschreiten.
Das Dasein lässt sich in drei Bereiche einteilen: den Bereich des
Körperlichen (Xing), den Bereich der Lebenskraft (Qi) und den
Bereich des Geistigen (Shen). Alle drei Bereiche sind im Grunde eins,
die Unterscheidung liegt im menschlichen Bewusstsein begründet. Die
gewohnten Grenzen der Wahrnehmung und des Denkens schränken die
menschliche Erkenntnis vorwiegend auf den Bereich des Körperlichen
ein. Auf dem Weg der Dao-Verwirklichung öffnet sich das Bewusstsein
zunehmend für den Bereich der Lebenskraft und den Bereich des
Geistigen.
Mit der Öffnung des Bewusstseins für die bislang verborgenen
Bereiche des Daseins lässt sich die höchste meditative Einsicht
vorbereiten: die Einsicht in das grundlegende Wesen des Daseins, was
gleichbedeutend ist mit der Einsicht in die alle Lebensvorgänge
steuernde schöpferische Kraft: Taiji.
Was ist Taiji?
Taiji ist der zentrale Begriff der traditionellen chinesischen
Philosophie. Er wurde erstmals von Konfuzius in der Einleitung seiner
Kommentare zum Buch der Wandlungen (Yijing) erwähnt. Was damit
gemeint ist, wurde schon vorher von Laozi im Daodejing als das große
Dao („großer Weg“, Da-Dao) beschrieben.
Taiji bezeichnet den Zustand vor dem allerersten Anfang und nach
dem allerletzten Ende aller Daseinsformen. Es ist die formlose
Grundlage allen Daseins. Im Zustand von Taiji sind die Daseinsformen
als Möglichkeit vorhanden, aber noch nicht ausgeformt.
Taiji umfasst den Zyklus von Werden und Vergehen und ist seine
treibende Kraft. Jede Daseinsform entsteht aus Taiji und kehrt nach
ihrem Ende wieder zu Taiji zurück. Mit anderen Worten, jede Form
entsteht aus Formlosigkeit und kehrt wieder zur Formlosigkeit zurück.
Vom Standpunkt der Form bedeutet dies Geburt und Tod. Vom Standpunkt
des Taiji bedeutet dies ewige Verwandlung.
Taiji zu erkennen, bedeutet, die im Verborgenen wirkende
schöpferische Kraft zu erkennen. Die schöpferische Kraft ungestört
von den Prägungen durch die Gesellschaft und Kultur auf sich wirken
zu lassen und dadurch Körper (Xing), Lebenskraft (Qi) und Geist
(Shen) zu läutern, wird als die ursprüngliche Praxis des Taiji
bezeichnet.
Die ursprüngliche Praxis des Taiji ist formlos. Das heißt, es
gibt keine festgelegte Übungsform, aber es kann jede Art von
Übungsform natürlich entstehen. Die Anleitung besteht aus
Hinweisen, wie man dem natürlichen Wirken der schöpferischen Kraft
den Weg frei macht. Unterstützt wird die Praxis durch eine
Übertragung von Lebenskraft (Qi) und geistigen Informationen. Diese
Übertragung ist von wesentlicher Bedeutung, da sich die Praxis durch
Worte nicht ausreichend erklären lässt. Alle sprachlichen oder
gedanklichen Konzepte bleiben auf der Ebene
gesellschaftlich-kultureller Prägung zurück. Um in die
ursprüngliche Praxis des Taiji einzutreten, muss man diese
Einschränkung überwinden und sich von allen Annahmen losgelöst in
den Zustand der Absichtslosigkeit (Wuwei) zurückziehen.
Im Zustand der Absichtslosigkeit (Wuwei) findet sich der direkte
Zugang zum Wirken der schöpferischen Kraft. Es entfalten sich
natürliche Übungsformen, die immer wieder neu entstehen und sich
beständig verändern. Diese natürlichen Übungsformen sind Ausdruck
eines Harmonisierungsprozesses. Der Übende kommt mit sich selbst und
mit der schöpferischen Kraft in Einklang und erweitert seine
Möglichkeiten der Erkenntnis. Mit der ursprünglichen Praxis des
Taiji kehren Körper (Xing), Lebenskraft (Qi) und Geist (Shen) auf
natürliche Weise zu ihrem uneingeschränkten Zustand zurück.
Die ursprüngliche Praxis des Taiji lässt sich anhand ihrer drei
Grundsätze, die gleichzeitig die höchsten daoistischen Grundsätze
für die Gesundheitspflege und Wirklichkeitsergründung sind,
zusammenfassen: (1) Absichtslosigkeit (Wuwei) als Übungsprinzip,
(2) Natur (Ziran) als Methode und (3) die Rückkehr zum
Ursprung (Fanben) als Ziel. |